Prof. Dr. Claudia Stockinger: The Right to Privacy? Anmerkungen zu einer aktuellen Debatte am Beispiel von Eggers Roman ‚The Circle‘. 30. November 2015

Worum es geht:
„Privacy is no longer a social norm“, behauptet Mark Zuckerberg, der Gründer von Facebook, und Eric Schmidt, der ehemalige Google-Chef, rät sogar: „Wenn Sie etwas machen, von dem Sie nicht wollen, dass es irgendwer erfährt – dann sollten Sie es vielleicht gar nicht erst tun“. Seit dem 19. Jahrhundert zu einem Menschenrecht erhoben (Warren/Brandeis: The right to privacy, 1890) und auf unterschiedlichen Diskursebenen verteidigt bzw. eingefordert (z.B. Woolf: A room of one’s own, 1929), steht das Recht auf Privatheit mit den neuen Informationstechnologien zunehmend in Frage, ja, einige Debattenteilnehmer haben bereits die Phase der Post-Privacy eingeläutet und erklären Privatheit zu einem Anachronismus.
Ist das Private tatsächlich bedroht (wie Schmidt nahelegt) und muss deshalb besonders geschützt werden? Oder ist es (so Zuckerberg) ohnehin bereits verschwunden? Leben wir in einer Ära ,nach der Privatheit‘? Was bedeuten ,öffentlich‘ und ,privat‘ im Zeitalter der Digitalisierung?
Eine Antwort auf die – in den letzten Jahren zunehmend virulente – Debatte um den gegenwärtigen Stellenwert und die Zukunft von Privatheit bietet Dave Eggers‘ Roman The Circle, seit der deutschen Übersetzung 2014 auch hierzulande in den Feuilletons vielfach und prominent rezipiert. Der Roman zeichnet eine Zukunftsvision, die in Vielem sehr nah an der Gegenwart ist und von neuesten Entwicklungen – wie etwa dem Umbau des Google-Konzerns zur Holding Alphabet im August 2015 – inzwischen eingeholt wird. The Circle fängt als eine Art Thesenroman wichtige Positionen der Debatte ein und setzt sie ins fiktionale Bild: Eine junge Frau, Mae, wird Angestellte des Internetkonzerns „The Circle“. Was als harmloser Karrieresprung beginnt, führt zur vollständigen Übernahme von Person und Leben. Um diesen Weg nachvollziehbar zu machen, bedient sich der Roman bezeichnenderweise (v.a.) christlich-religiöser Sprachtraditionen und Denkformationen, die er transformiert und für eigene Zwecke säkularisiert. Die totalitäre Transparenzgesellschaft erhebt demnach hohe Ansprüche: Sie stellt in Aussicht, all jene Leerstellen auszufüllen, die die zeitgenössische Gesellschaft aufzuweisen scheint – auch diejenige der Religion.

Zum Referenten:
Prof. Dr. Claudia Stockinger, geb. am 17. Februar 1970 in Regensburg; 1989 Abitur am Fichte-Gymnasium in Karlsruhe; 1989-1994 Studium der Deutschen Philologie, Geschichte und Philosophie an der Universität Regensburg; 1999 Promotion; 1995-2000 Wissenschaftliche Mitarbeiterin (BAT IIa) und 2000-2002 Wissenschaftliche Assistentin (C1) am Institut für Literaturwissenschaft der Universität Karlsruhe; 2002-2006 W1-Professorin, 2006-2012 W2-Professorin und seit 2012 W3-Professorin für Deutsche Philologie/Neuere Deutsche Literatur an der Universität Göttingen; 2011 Ruf auf den Lehrstuhl für Neuere und Neueste deutsche Literatur der Friedrich-Schiller-Universität Jena (abgelehnt).

Aktuelle Projekte und Arbeitsschwerpunkte: Sprecherin des DFG-Graduiertenkolleg 1787 Literatur und Literaturvermittlung im Zeitalter der Digitalisierung; Buchprojekt Desäkularisierung als sprachbildende Kraft. Zum Verhältnis von Literatur und Religion in der Gegenwart; Teilprojektleiterin der DFG-Forschergruppe Ästhetik und Praxis populärer Serialität: „Serielles Erzählen in populären deutschsprachigen Periodika zwischen 1850 und 1890“, derzeit Vorbereitung einer Studie zur Kulturzeitschrift Die Gartenlaube; Redaktionsmitglied der Literaturzeitschrift text + kritik; Herausgeberin der Schriftenreihe Deutsche Literatur. Studien und Quellen im Verlag Walter de Gruyter, Berlin-Boston ehemals im Akademie Verlag, Berlin).

Publikationen (nur Bücher, in Auswahl): Das dramatische Werk Friedrich de la Motte Fouqués. Ein Beitrag zur Geschichte des romantischen Dramas, Tübingen: Niemeyer, 2000. – Martin Kessel (1901-1990), Bielefeld: Aisthesis, 2004 (hg. zus. mit Stefan Scherer). – Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur, Bern u.a.: Lang, 2005 (hg. zusammen mit Steffen Martus und Stefan Scherer); Das 19. Jahrhundert. Zeitalter des Realismus, Berlin: Akademie Verlag, 2010. – Wertung und Kanon, Heidelberg: Winter, 2010 (hg. zus. mit Matthias Freise). – Ludwig Tieck. Leben – Werk – Wirkung, Berlin-Boston: de Gruyter, 2011 (hg. zus. mit Stefan Scherer). – Kanon, Wertung und Vermittlung. Literatur in der Wissensgesellschaft, Berlin-Boston: de Gruyter, 2012 (hg. zus. mit Matthias Beilein und Simone Winko). – Schuld, Sühne, Humor. Der Tatort als Spiegel des Religiösen, Karlsruhe: Evangelische Akademie Baden, 2013. – Karl Philipp Moritz: Sämtliche Werke. Kritische und kommentierte Ausgabe. Bd. 11: Denkwürdigkeiten / Vorworte, Nachworte und Anmerkungen zu von Moritz herausgegebenen Werken, hg. von Claudia Stockinger, Berlin-Boston: de Gruyter, 2013 (757 S.; Anhang/Kommentar S. 303-757). – Friedrich de la Motte Fouqué: Werke. Abteilung II: Ausgewählte Dramen und Epen. Band 13: Andreas Hofers Gefangennehmung. Tragödie in einem Akt; Andreas Hofers Tod. Tragödie in einem Akt. Erstdruck aus den Handschriften mit Stellenerläuterungen und einem Nachwort herausgegeben von Claudia Stockinger. Hildesheim/Zürich/New York: Olms, 2014 (232 S.; Anhang/Kommentar S. 153-231). – Föderalismus in Serie. Die Einheit der ARD-Reihe Tatort im historischen Verlauf, Paderborn: Fink, 2014 (verfasst zus. mit Christian Hißnauer und Stefan Scherer; unter Mitarbeit von Björn Lorenz).

Veranstaltungsmaterialien:
Interview_Privacy-Stockinger_LZ

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